Die letzte Bolex
Protokoll einer Totgeburt
Sie hätte so gern das Licht der Welt erblickt. Vermutlich jedenfalls. Und sie hätte ebenso gern die Töne des Tages festgehalten. Doch dazu kam es nicht mehr. Der Entwurf des Mikroprozessormodells 4108 war bei Bolex im Februar 1980 nahezu abgeschlossen. Die daraus resultierenden Soundfilmkameras 5XL, 8XL und 11XL waren eigentlich marktreif. Eigentlich.
Selten ist es möglich, anhand von Dokumenten die Entstehung einer Filmkamerareihe minutiös nachzuzeichnen. Hier gelingt es. Denn aufgrund einer Projektbeschreibung, die Chefkonstrukteur Peter Vockenhuber zuletzt am 8. Februar 1980 ergänzte, lässt sich haarklein rekonstruieren, wie die Bolex-Prototypen mit der Arbeitsnummer 4108 entstanden sind. Und sie hatten wirklich ein paar Details an Bord, die man zuvor noch nie bei Super-8-Kameras gesehen hatte.

Bolex war Chinon, Eumig war Bell & Howell
Nachdem um 1973 die Produktion von eigenen Super-8-Filmkameras bei Bolex zum Erliegen kam, setzte bald ein Etikettenschwindel ein: Bolex stand drauf – Chinon aus Japan war drin. Das galt sowohl für Stumm-, als auch für Tonfilmkameras. Schon 1970 verlor die Schweizer Marke ihre Eigenständigkeit und wurde von Eumig in Österreich geschluckt. Durch die Entwicklung der anspruchsvollen PMA-Weitwinkel-Stummfilmkameras trauten sich die Österreicher schließlich auch zu, Tonfilmkameras selbst herzustellen. Das hatte Eumig bisher Bell & Howell in Japan überlassen und die Geräte unter dem Markennamen Eumig vertrieben. Sowohl die Entwicklungen der Eumig PMA-Kameras, als auch der weltweit einzigen Super-8-Unterwasserkamera Nautica, kamen aus der übernommenen Studienabteilung von Bolex in Yverdon. Dorthin gab man schließlich die Anweisung, eine Super-8-Soundfilmkamerareihe unter dem Namen Bolex Pro zu entwerfen. Am 13. Januar 1978, so steht’s auf dem Papier der Projektbeschreibung, erging der Auftrag. Die Geschichte beginnt.
In der Modellreihe waren drei Tonfilmkameras vorgesehen, die sich hauptsächlich durch das Objektiv unterscheiden:
- 11-fach Zoom 1:1,8/6-66mm Macro und PMA-Weitwinkelvorsatz
- 8-fach Zoom 1:1,2/7-56mm Macro und PMA-Weitwinkelvorsatz
- 5-fach Zoom 1:1,2/8-40mm Macro und PMA-Weitwinkelvorsatz
Alle Modelle haben zwei Zoomgeschwindigkeiten. Ein Motor wählt drei Schärfezonen auf Knopfdruck an: 7 Meter bis unendlich, 4 bis 7 Meter oder 2 bis 4 Meter. Dieses Verfahren war wohl die Antwort auf die zu der Zeit noch nicht so überzeugend funktionierenden Autofokus-Systeme. Um die Schärfe im abschaltbaren Automatikmodus zu gewährleisten, gab es je nach gemessener Blende maximale Brennweiten, die vorjustiert waren. Bei Blende 2 ging nix über 15mm, bei Blende 11 waren es 50mm.

Neuheit mit Flüssigkristall-Sucher
Die Kameras sollten Filme bis ISO 400 lesen können. Stumm- und Tonfilmkassetten waren einsetzbar, auch 60m-Sound-Kassetten passten hinein. Als Bildgeschwindigkeiten standen im Stumm-Modus 1, 9, 18, 24 und ein „Schnellgang“ zur Verfügung, der nicht näher beschrieben wurde. Für Tonaufnahmen waren 18 und 24B/sec. angedacht. Eine kleine Absonderlichkeit am Rande: Der „Normalgang“, also 18 oder 24, ließ sich nur mittels Münze an der Unterseite der Kamera vorwählen. Ein „Vario-Timer“ ermöglichte ein Bild pro Sekunde bis zu einem Bild alle 255 Sekunden.
Der Sucher war eine extrem spezielle Neuentwicklung aus der Studienabteilung von Bolex. Rings um das eigentliche Bild herum gab es einen sogenannten Umfeldsucher mit Flüssigkristallanzeige. Er diente zur Angabe der Schärfezone, zeigte Tonbetrieb, Über- oder Unterbelichtung, Filmvorrat und Transportstörungen an. Ein Schnittkeil für manuelle Scharfstellung war ebenfalls vorhanden. Der aufwendige Sucher entpuppte sich als rechter Batterieschlucker. Denn auf der Projektbeschreibung von Peter Vockenhuber findet sich die handschriftliche Bemerkung: „Kamera ist nur mit Batterien zu demonstrieren, sonst ist der Sucher zwei Blenden dunkler!“
Auch außen hatte der Entwurf 4108 ein besonderes LCD-Display. War die Klappe über der Anzeige halb geöffnet, wurde der Betriebszustand angezeigt. Ganz geöffnet, konnten dann alle Betriebsarten vorgewählt werden – auch ein Selbstauslöser nach 3, 6 oder 9 Sekunden Vorlauf. Auf- und Abblenden sollte möglich sein, auch Überblendungen von Bild und Ton. Ein eigenwilliger Gimmick war die vorgesehene „Schärfenüberblendung“. Dabei fährt die Kamera das Objektiv am Ende einer Szene selbsttätig in den Makro-Modus und beim Beginn der nächsten Szenen wieder zurück.

Steckerleiste als Computerkontakt
Während das Modell 5XL nur automatische Tonaussteuerung haben sollte, war bei den beiden Luxusvarianten eine manuelle Aussteuerung über Potentiometer und zwei LED-Anzeigen möglich: grün für normalen Pegel, rot für Übersteuerung. Ganz neu war eine 13-polige Steckerleiste, die es ermöglichte, die Kamera von außen zu steuern, auch über einen Computer. Angedacht war dabei auch das Betreiben mehrerer Kameras, eines „intelligenten Tonbandgeräts“ oder eine Banküberwachung mit Einzelbildern.
Am 2. April 1979 zückten die Leute bei Eumig die Bleistifte und kalkulierten die vermuteten Lohn- und Materialkosten für das Modell 8XL, prognostiziert auf das Jahr 1981. 3.020 Schilling kamen dabei zusammen, das waren 430 Mark. Der Verkaufspreis ab Werk könnte dann bei 4.020 Schilling liegen, so meinte man; viel Profit gab es da nicht, denn die hohen Entwicklungskosten waren noch gar nicht mit eingerechnet. Als maximal erzielbarer Verkaufspreis in Deutschland galten 1.100 D-Mark. Auch für die anderen Modelle wurden im November 1979 „optimale Going-Preise“ in der Bundesrepublik ermittelt: 1.300 DM für das Spitzenmodell, 900 DM für die kleine 5XL. Pro Jahr gedachte man von der 11XL weltweit bis zu 12.000 Stück, von der 8XL und der 5XL jeweils bis zu 24.000 Stück loszuschlagen – und das drei Jahre lang.
Ein Plan und eine Treppe
Nun wurde ein „vorläufiger Terminplan“ erstellt:
- 03/1980 Freigabe des Innenlebens der Kamera
- 05/1980 Freigabe des kompletten Geräts: Elektronik und Gehäuseteile
- 11/1980 Musterserie
- 03/1981 Montageanlauf
- 04/1981 Ablieferung der ersten 1000 Stück
Am 8. Februar 1980 setzte Chefkonstrukteur Peter Vockenhuber zum letzten Mal seine Unterschrift unter die Projektbeschreibung. Das Geschäftsjahr 1979 hatte Eumig kurz zuvor mit einem Minus von 678 Millionen Schilling abgeschlossen. Am 15. Mai 1980 wurde das erste Eumig-Werk in Bad Deutsch Altenburg geschlossen. Per 28. Mai 1980 schieden Ingenieur Karl Vockenhuber und Dr. Raimund Hauser als Eigentümer und Geschäftsführer bei Eumig aus. Ihre Eigentumsanteile übernahm die Österreichische Länderbank. Karl Vockenhuber, der Vater des Schweizer Chefkonstrukteurs, verließ an diesem Tag zum letzten Mal sein Büro im zehnten Stock des Eumig-Hochhauses und ging alle zehn Etagen zu Fuß hinunter.














