Was Leitz alles baute – und dann versteckte
Kameras, die im Tresor blieben
photokina 1960: Am Stand der Firma Leitz schauen die Fotofanatiker mal nicht gleich nach Neuigkeiten auf dem Stehbildsektor. Vielmehr schielt alle Welt in die Vitrinen, in denen die nagelneue „Leicina 8 S“ ihre Aufwartung macht. Es ist die erste 8mm-Filmkamera aus dem Hause Leitz. Aber schon Jahrzehnte vorher hat man beim renommierten Fotogeräte-Hersteller mit Filmkameras experimentiert. Jetzt können erstmals alle Prototypen gezeigt werden, die in Wetzlar entstanden sind. Viele davon haben das Stadium des Serienmodells leider nie erreicht.
Wilhelm Schäfer, Konstrukteur von Filmgeräten bei Leitz, erinnert sich gern an seine schöne Zeit in der Firma: „Das waren immerhin 35 Jahre.“ Schon bevor er sich im Nachkriegs-Deutschland mit Leicinas befasste, hat es viele andere Versuche gegeben.
- Abgetakeltes Holzmuster: 1937 entsteht ein erster Entwurf für eine 8mm-Kamera bei Leitz
- Steht nur dank Stütze: die metallene „Leicina 8“ mit übergroßem, oben und unten abgerundetem Filmmagazin. Ein Knüller von 1937
1937 entstand das erste Holzmuster für Doppel-8. „Es war mit Wechselobjektiven ausgestattet, hatte mehrere Bildfrequenzen, einen Fernrohrsucher und eine Wechselkassette“, erinnert sich der heute 85-Jährige.
Neben 8, 16, 24, 32, 40 und 48 B/sec. war natürlich auch eine Einzelbildschaltung vorgesehen.
Ein bisschen größer wurde die ansetzbare Filmkassette dann doch – ein funktionsfähiger Prototyp aus Metall entstand, dessen Wechselkassetten überbordende Rundungen hatten. Stehen konnte die nun schon „Leicina 8“ genannte Kamera nicht. Als Objektiv war ein „Leitz L8 Dygon 1:2,8/1cm“ fest montiert. Warum das gute Stück letztlich doch nicht auf den Markt kam, ist unbekannt.
- Prachtstück von 1957: die Leicina 8mm-Kamera mit ansetzbarer CinemaScope-Kassette. Das hatte die Welt noch nicht gesehen. Und sie sollte es auch nicht sehen, denn der Entwurf blieb im Tresor
- Die Leicina ohne Filmkassette
- Offene Filmkassette für die 8mm-Leicina von 1957
16mm-Filmprojektoren statt 8mm-Kameras
„Als Ende der 1940er Jahre ernsthaft die Rede davon war, die vielen im Wiederaufbau befindlichen Kinos mit feuersicherem 16mm-Film zu betreiben, wurde ein 16mm-Tonfilmprojektor bei Leitz entwickelt“, weiß Schäfer. Hohe Lichtleistung und guter Bildstand waren Argumente für den Verkauf, aber: „Leider hat die Umstellung auf 16mm in den Kinos im großen Stil dann doch nicht stattgefunden.“ Die Theatermaschinen „Leitz G1“ (mit 400 Watt Lampe) und „Leitz H3“ (mit Kohlebogenlampe oder 2.000 Watt Xenonlampe) wurden zwischen 1951 und 1961 ganze 440 mal verkauft.
Anfang der 1950er Jahre wurde der Prototyp von 1937 wieder aus dem Schrank geholt. Doch jahrelang arbeitete man nur halbherzig an dem Projekt. 1957 war es dann endlich soweit. Ein neuer Prototyp mit beachtlichen Leistungen war vollbracht. „Es macht mir Spaß, die technischen Einzelheiten des Geräts zu beschreiben“, lacht Wilhelm Schäfer, „denn es war ein echtes Leitz-Gerät und entsprach optisch wie mechanisch höchsten Ansprüchen.“ Der mal braun, mal schwarz, mal grün belederte Prototyp, den es heute noch in rund 15 Kopien gibt, war mit einer abnehmbaren Automatik-Kassette ausgestattet. „Der automatische Kassettenfenster-Verschluss sorgte dafür, dass beim Umdrehen vom ersten zum zweiten Durchlauf des Doppel-8-Films kein Bild verloren ging.“ Noch immer ist Schäfer sichtlich stolz auf solche Details.
- In allen Farben ausprobiert: die 8mm-Leicina in bunt
Am Ende des ersten Durchlaufs wurde die Kamera automatisch gestoppt und beim Wechsel der Kassette war das Filmfenster ebenso automatisch verschlossen. Der raffinierte Mechanismus machte stets und überall einen Kassettenwechsel ohne Bildverlust möglich.
Auch ein Filmvorratsmesser ist an der Kassette untergebracht; außerdem eine DIN/ASA-Anzeige. Besonderer Clou war jedoch eine Zusatzkassette, ausgestattet mit einem doppelt so breiten Bildfenster. „Das Breitwand-Verfahren war damals im Kino gerade die Attraktion“, erinnert sich Schäfer. Also sollte CinemaScope auch bei der Leicina möglich sein. Wie das ungewöhnliche Format projiziert werden sollte, ist nicht verbrieft.
Beim winzigen 8mm-Filmbild war die optische Qualität des Abgebildeten besonders wichtig. Deswegen brachte Leitz eine fokussierbare Wechselobjektivreihe heraus, dessen Star ein „Dygon 1:1,0/13mm“ war. Für Blenden- und Scharfstellung waren keine Drehringe, sondern große Hebel mit Kügelchen am Ende vorgesehen.
Stolz auf die Tensator-Feder
„Besonders gelungen war auch die Tensator-Feder“, schwärmt Schäfer. Ähnlich einer Uhrfeder, aber mit einer Umkehr der Wickelrichtung vom gespannten in den entspannten Zustand, konnte sie 4 Meter Film durchziehen – und das bei nur minimal abfallendem Drehmoment. 1, 8, 12, 16, 24, 32, 48 und 64 B/sec. standen zur Verfügung. „Außerdem war das Federwerk abschaltbar. Mit der Aufzugskurbel konnte die Kamera manuell im Einer- oder Achter-Gang pro Sekunde betrieben werden.
Der Apparat war mit einem leistungsfähigen Messsucher ausgestattet. Das verwendete Objektiv steuerte die Bildfenstermaske dazu. Ein Gelbfilter machte den Mischbild-Entfernungsmesser im Sucher besonders leicht sichtbar. Zur Versorgung des Belichtungsmessers diente eine Selenzelle über dem Objektiv. Batterien also gänzlich überflüssig. Die Blenden-Nachführung war im Sucher unterhalb des Bildfensters ablesbar.
Ganz niedlich: die kleine Stirnstütze über dem Okular. Noch witziger: der 4fach Kombi-Graufilter, der abschraubbar über dem Objektiv angebracht war. Nach dem Abnehmen schwenkte man das verbliebene Filtergewinde (das mit einem weiteren Graufilter versehen war) vor den Belichtungsmesser und beeinflusste diesen durch die richtige Korrektur.
„Das wunderschöne Präzisionsgerät“, bedauert Schäfer, „kam leider nicht über die Bemusterungsphase hinaus. Der große technische Aufwand hätte einen extrem hohen Verkaufspreis erforderlich gemacht. Einen Preis, der selbst für ein Leitz-Gerät kaum von dem damals noch sehr unsicheren Schmalfilm-Markt akzeptiert worden wäre.“
Abwarten und Tee trinken
Leitz baute keine Filmkamera und beobachtete stattdessen den Markt. „Einer schnellen Verbreitung des Hobbys Filmen war mit hoher Wahrscheinlichkeit mehr gedient, wenn wir uns bemühten, das Filmen einfacher und komfortabler zu machen“, hieß die Maxime. Dazu natürlich eine erstklassige Optik.

Mit diesen Zielen vor Augen ging es 1958 wieder ans Werk. Es wurden entwickelt:
- ein elektrischer Antrieb für die Blendenachse und den Filmtransport
- eine Belichtungsautomatik
- ein brennweitenvariables Objektiv-System
- ein Reflexsucher
„Viele neue Interessenten sollten fürs Filmen gewonnen werden – mit dem elektrischen Antrieb, statt der Kurbelei beim Aufziehen, und der Belichtungsautomatik, statt mühsamer manueller Messung“, resümiert Schäfer.
Und 1960 ist es dann soweit. Die erste Kamera sieht ganz schön kantig aus. Der Griff gleicht einem Stuhlbein, wird gespottet. Und doch setzt die „Leicina 8 S“ Maßstäbe: extrem tief liegender „Unterflur-Sucher“, Stirnstütze, Schnellwechsel-Bajonett für Vorsatzobjektive, immens heller Reflex-Sucher.
- Gläsernes Modell des Belichtungsmessers für die „Leicina 8 S“ von 1960
- Gläsernes Modell des Belichtungsmessers für die „Leicina 8 S“ von 1960
Eine spätere Variante verfügt über eine rote Arretierung für den Handgriff. Außerdem ist der Knopf für den Rücklauf von der Unterseite neben den Okulareinblick gewandert und zum Hebel geworden. Bis 1966 verkaufen sich insgesamt 35.000 Stück dieser Kameras aus Alu-Druckguß in hellgrauem Hammerschlag-Lack.
Das sind die Kennzeichen dieser Kamera: elektrischer Antrieb, 4 x 1,5 Volt Mignonzellen oder 6 Volt Akku (zur damaligen Zeit sehr selten). Belichtungsautomatik mit Korrektur und ganz schließender elektrischer Objektivblende zum Auf- und Abblenden. Ein separates Messobjektiv an dem Filmempfindlichkeiten von 9-27 DIN einstellbar sind. 6-linsiges Grundobjektiv 1:2,0/15mm mit Strahlenteiler-Prisma zwischen Hinterlinse und Umlaufblende zur Versorgung des Reflexsuchers an der Gehäuse-Unterseite. Auffällige Stirnstütze aus Gummi. Besonders starke Suchervergrößerung von 1:1 bei 12mm Brennweite. Schnellwechsel-Bajonett zur Befestigung der zugehörigen afocalen Vorsatz-Objektive: 1:2,0/9mm (4-linsig) als Standardausrüstung bis 0,25m fokussierbar. 1:2,0/6,25mm (5-linsiges Weitwinkel) und 1:2,0/36mm (4-linsiges Teleobjektiv). Blenden- und Filmverbrauchsanzeige im Sucher, Sucherverschluß, Rücklauftaste für Überblendungen sowie Doppelbelichtungen. Automatische Filmeinfädeleinrichtung, zwei Stativgewinde (1/4“ und 3/8“).
Auf der photokina 1960 gibt es auch schon die „Leicina 8 V“ – das „V“ steht für das Variogon-Objektiv der Firma Schneider aus Bad Kreuznach – zu sehen, die aber erst 1962 in die Läden kommt. Für den Sammler ist die „Leicina 8 V“ heute schwer aufzutreiben. Bis 1964 können nämlich nur 3.000 Geräte an den Kameramann gebracht werden, denn das gute Stück ist reichlich schwer. Auch der Schwerpunkt liegt zu weit vorn. Selbst Werner Schäfer sagt: „Eigentlich verstieß die Kamera gegen die Leicina-Philiosophie. Sie hatte eine kritische Größe erreicht. Transportvolumen und Gewicht entsprachen nicht mehr dem Prinzip der leichten Handhabung.“
Die „Leicina 8 V“ trägt ein „Variogon 1:1,8/8-48mm“, das von der Firma Schneider in Bad Kreuznach gefertigt wird. Das Besondere an dieser Kamera ist die seitlich angeordnete koaxiale Brennweiten-Verstellung und Fokussierung. Als Bildgeschwindigkeiten sind 1, 16, 24 und 32 Bilder pro Sekunde möglich, während die „Leicina 8 S“ nur mit 16 B/sec. läuft.
Bei der 8 V wird das Teilerprisma für den Sucher nicht mehr, wie bei der 8 S, zwischen letzter Linse und Bildfenster, sondern in der Blendenebene des Objektivs angeordnet. Damit bleibt das Sucherbild immer maximal hell, auch wenn die Objektivblende von der Belichtungsautomatik geschlossen wird. Für den Sucher werden rund 20 Prozent des Lichtes ausgespiegelt.
Fotos: Jochen-Carl Müller






















